Blogpause

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SH

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Vortrag SAMOS VOLUNTEERS in der Pension Schmidt am 26.07.19

Sabine Klasen und Bogdan Andrei von der NGO „SAMOS VOLUNTEERS“ berichten über „Europas vergessene Flüchtlinge“ auf der griechischen „Hotspot“-Insel Samos, die politischen Zustände und die Arbeit der Nicht-Regierungs-Organisation.

Da medial kaum noch über geflüchtete Menschen berichtet wird, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass sich die sogenannte „Flüchtlingskrise“ entspannt habe. Dabei sind momentan rund 68 Mio. Menschen weltweit auf der Flucht, ein Viertel davon sind Kinder. Auf der Insel Samos, die 1 km von dem türkischen Festland entfernt liegt, leben über 3.500 Geflüchtete in einem Lager, das eigentlich nur Platz und Infrastruktur für 700 Menschen hergibt. Dort leben die Geflohenen unter menschenunwürdigen Bedingungen: Zu jeder Mahlzeit müssen sie 3-4 Stunden in einer Schlange auf ihr Essen warten, es gibt kein fließendes Wasser und Ratten laufen zwischen den notdürftig aufgestellten Zelten umher. Im Durchschnitt müssen die Menschen im Lager 5 Monate bis 2 Jahre bleiben, bis sie den Bescheid bekommen, ob sie auf das griechische Festland weiterreisen dürfen.

Auf Grund des Dublin-Vertrags müssen Geflüchtete Asyl dort beantragen, wo sie zuerst Boden der EU betreten. Bis sie von den Behörden hören, dürfen sie die Insel nicht verlassen, es sei denn, sie entscheiden sich, zurückgeführt zu werden. Allein besonders Schutzbedürftige dürfen aufs Festland gebracht werden. Die Menschen im Lager auf Samos leben so schlecht ertragbaren Bedingungen, dass sie sich bewusst bei Schwer-kranken anstecken oder um jeden Preis schwanger werden wollen. Die Zahl der psychischen Krankheiten unter den Bewohner*innen des Lagers ist immens hoch. Traumatische Erfahrungen im Heimatland und auf der Flucht, sowie die zur Verzweiflung bringende Lage im Lager auf Samos treiben die Menschen bis hin zu Selbstverletzung und Suizid. Da mehr als fünf Mal so viele Menschen im Lager unterkommen, wie für die die Infrastruktur besteht, können Ärzt*innen oft nicht rechtzeitig eingreifen.

Nach dem EU-Türkei-Abkommen vom 19. Juni 2018 hat sich die griechische Regierung verpflichtet, Geflüchtete, denen kein Asyl gewährt wird, in die Türkei abzuschieben. Hinzu kommt, dass rund die Hälfte der Flüchtenden auf der Strecke über die Türkei nach Griechenland von türkischen Grenzbeamten aufgehalten werden. Das bedeutet, dass die Bewohner*innen oft mehrere Versuche unternommen haben, um unter lebensbedrohlichen Bedingungen das Meer zu überqueren. Die neue griechische Regierung möchte nach eigenen Aussagen die Grenzkontrollen und die Abschiebungen in die Türkei erhöhen. Absehbar ist das momentan allerdings nicht.

SAMOS VOLUNTEERS hat sich als NGO gegründet, nachdem im Jahr 2015 die Unterstützung für andere Organisationen der Flüchtlingshilfe von Seiten der EU abnahm. In einem Team aus momentan circa 60 internationalen Freiwilligen und Freiwilligen unter den Bewohner*innen des Lagers stellt SAMOS VOLUNTEERS vor allem psycho-soziale Hilfe zur Verfügung. Mit Kinderaktivitäten, Sprachkursen und kreativen Angeboten sollen zumindest Angebote geschaffen werden, die eine Ablenkung vom Alltag im Lager bieten. Außerdem betreibt die NGO eine Waschstation und ein Rechtsberatungszentrum in Kooperation mit anderen Organisationen vor Ort.

Weitere Informationen zu SAMOS VOLUNTEERS und der Möglichkeit selbst als Freiwillige*r tätig zu werden finden sich auf der Homepage samosvolunteers.org und auf der Facebook-Seite. SAMOS VOLUNTEERS freut sich über jede Art der Unterstützung, sei es durch freiwillige Mitarbeit, Spenden oder den Kauf des Kochbuchs „Displaced Dishes that found their way to Samos Refugee Camp“. 100% des Erlöses gehen an die Organisation. Aber auch das Teilen der Informationen über die Situation in Samos trägt dazu bei, dass das bisherige Versagen der EU-Staaten, Geflüchtete unter menschenwürdigen Bedingungen unterzubringen, nicht in Vergessenheit gerät.

TE (red. Änderungen: NR)

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Robert Habeck, der Patriotismus und die linke Idee

Robert Habeck tritt als großer Erneuerer in der Wahl zum Parteivorsitz an. Er möchte die Grünen neu denken und das jenseits alter Flügelkämpfe und langweiligem Müsli-Image. Die Grünen sollen mutiger und offener sein und beispielsweise überlegen, ob die paritätisch besetzte Doppelspitze nicht ein alter Zopf sei, den man lieber abschneide. Als Schriftsteller weiß er seine Sprache dazu zu nutzen. Ich habe mir seine Publikationsliste angeschaut, um mich vor der Bundesdelegiertenkonferenz zur Wahl des Parteivorsitzes besser über den Kandidaten zu informieren. Anschließend habe ich mir das Buch bestellt, das mich am meisten provoziert hat. Ist Robert frech und eloquent? Auf jeden Fall! Ist er ein großer progressiver Erneuerer? Ich habe so meine Zweifel.

Schon der Titel „Patriotismus – Ein linkes Plädoyer“ ist eine Provokation. Heute vielleicht eine größere Provokation als im Erscheinungsjahr 2010. AfD und PEGIDA gab es noch nicht, dafür Herrenfußball-WM und Partypatriotismus. Links war das zwar auch damals schon nicht, aber irgendwo muss die Provokation ja herkommen. Das Buch ist in drei große Abschnitte unterteilt. Der erste über Roberts Vorstellung von „linkem Patriotismus“, der zweite über seine Vorstellung von „liberalem Paternalismus“ (eine zweite Provokation) und der dritte und kürzeste über seine Vorstellung der zukünftigen Verortung der Grünen in der Parteienlandschaft. Der dritte Abschnitt argumentiert für ein Ende der politischen Lager und eine prinzipielle Offenheit für neue Konstellationen. Das lasse ich mal so stehen und gehe im Folgenden auf die ersten beiden Abschnitte ein.

Die linke Idee braucht nach dem Scheitern von Rot-Grün neuen Schwung, so Robert. Ein Problem der deutschen Linken sieht er in der grundsätzlichen Staats- und Marktfeindlichkeit. Eine Linke, die den Staat und den Kapitalismus (den Habeck mit der Marktwirtschaft gleichsetzt) rundheraus ablehnt, bietet keine echte Perspektive und kann die Gesellschaft so nicht erneuern. Erneuerung ist für Habeck die Essenz einer linken Bewegung. Im Patriotismus sieht er die Chance auf ein Konzept, das Staatlichkeit und Marktwirtschaft grundsätzlich offen gegenübersteht, aber die Bürger (sic! Robert verwendet keine geschlechtergerechte Sprache) gleichzeitig aktiviert und sie empowert. Dabei bezieht er sich auf einen amerikanischen Patriotismus und die Herrenfußball-WM 2006 in Deutschland. Dieser Patriotismus wäre nicht gebunden an Blut und Boden, noch an ein starkes „wir“ im Gegensatz zu „den anderen“. Er wäre viel mehr offen, spielerisch und ganz in Roberts Sinne ein linkes Konzept als Mittel für die Erneuerung einer verkrusteten, passiven Gesellschaft.

Sprachlich radikal wird das Buch in Fragen der Wirtschaftspolitik: Das Weltwirtschaftssystem ist nach Habeck fundamental defekt. Es krankt nicht an der Gier Einzelner, sondern an systemischen Widersprüchen und einer Politik, die einerseits bei ihren Regulierungsversuchen der Eigenlogik der Wirtschaft nicht genug Rechnung trägt, andererseits Wirtschaftskennziffern wie den Exportüberschuss fetischisiert und vor die Interessen der breiten Bevölkerung stellt. Diesem Problem möchte Robert mit aktivierenden Konzepten begegnen, die gleichzeitig eine umverteilende Wirkung haben. So möchte er Freiheiten schaffen, aber die Bürger auch in die richtige Richtung stupsen. Er nennt das „liberalen Paternalismus“. Zu dem Instrumentarium gehört dabei neben mehr Mitteln gegen Kinderarmut vor allem Bildung. Hier fordert er einerseits die Umstrukturierung von Schulen und Universitäten hin zu partizipativeren, aktivierenden Veranstaltungen, andererseits eine sogenannte Sozialerbschaft als Bildungsgeld. Diese sei einmalig nach Abitur oder Ausbildung oder einem bestimmten Alter bei Vorstrafenfreiheit ohne weitere Bedingungen oder Verpflichtungen auszuzahlen. Also wenn Personen nach Robert gezeigt haben, dass sie Verantwortung übernehmen können. Die Sozialerbschaft soll reichen, ein vollständiges Studium zu finanzieren. So werde einerseits die heimische Marktwirtschaft angekurbelt und das aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung defekte Erbschaftssystem repariert – die meisten Erbschaften funktionieren heute nicht mehr als Starthilfe ins selbstständige Leben, sondern kommen erst im Rentenalter. Außerdem werde umverteilt und den Empfangenden ein Stupser in die richtige Richtung (Bildung) gegeben. Andererseits werde den Bürgern die Freiheit gelassen, damit doch etwas völlig anderes zu machen (zum Beispiel einen Neuwagen zu kaufen), wenn sie dies lieber möchten.

Das Ganze liest sich wie gesagt frech und eloquent. Allerdings habe ich zwei grundlegende Probleme mit Roberts Buch und beide hängen mit seiner Neubesetzung von Begriffen zusammen. Um den Begriff „Patriotismus“ von seiner unappetitlichen Herkunft aus (Blut-)Gemeinschaft, Exklusion und Chauvinismus zu lösen, bezieht er sich zum einen sehr selektiv auf positive Beispiele. Dies ist verständlich, will er doch einen positiven Patriotismus finden. Allerdings hat die Geschichte in den acht Jahren seit der Veröffentlichung den vermeintlich unproblematischen amerikanischen Patriotismus mit der Wahl Donald Trumps erheblich verdüstert. Auch der Zusammenhang mit dem Partypatriotismus von Herrenfußball-Fans ist, wie die Soziologie inzwischen zeigen kann, verklärt und steht im krassen Widerspruch zu den semantischen Verrenkungen, die Roberts Patriotismus von einem Wir-Gegen-Die-Anderen-Denken befreien sollten. Identität und Wettbewerb sind schließlich gerade der Kern des Fußball-Fantums. Den Kardinalfehler, in seinem Versuch „Patriotismus“ umzudefinieren, ist damit noch gar nicht angesprochen: Das semantische Feld um diesen Begriff mit eben jenen Konzepten von Nation, Blut und Boden, die Robert nicht will, ändert man nicht mit einem frech vorgetragenen Konzept. Vielmehr läuft man Gefahr, durch die Rehabilitierung dieses Begriffs auch sein semantisches Feld zu dekontaminieren.

Zum anderen verwendet Robert einen sehr schwachen Begriff des politisch “Linken”, der mir ohne systematische Idee von materieller Umverteilung weitgehend entkernt erscheint. Seine Antworten auf die Weltwirtschaftskrise sind keynesianisch und entgegen seines Versprechens eines postnationalen Patriotismus stark an der Gesundung der heimischen Wirtschaft orientiert. Seine Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage ist die Sozialerbschaft, die zwar ein interessantes neues Konzept ist, aber erstens an ein Konzept des „verantwortungsvollen Bürgers“ gebunden ist, das mit dieser Form der Umverteilung gerade besonders benachteiligte Menschen ausschließt. Zweitens kann es als einmaliger Anschub keine systematische Umverteilung über die ganze Lebensspanne leisten. Auch seine Ideen für ein besseres Bildungssystem sind zwar schön, aber heilen nicht die materielle Schieflage des Landes oder – und das ist ja eigentlich der Anspruch – weltweit. So bleibt als einzige konkrete materielle Forderung die drastische Erhöhung des Hartz-IV-Satzes für Kinder. Das ist zwar richtig und wichtig, aber keine wirkliche Revolution der politischen Linken.

Roberts Buch strotzt vor kernigen Sätzen und Überschriften, angefangen beim Titel, über Kapitelüberschriften wie „Antikapitalismus ist nicht links, sondern dumm“ bis zur erstaunlich antietatistischen Forderung „Schafft das Bildungsministerium ab!“. Dieser Stil kann gefallen oder nicht. Für mich wirkte er zum Teil halbstark, gerade wenn er auf semantischen Verkürzungen wie Antikapitalismus = Proplanwirtschaft basiert. Ärgerlich werden diese gewollten Provokationen, wenn sie sich auf den Versuch beziehen, einen rehabilitierten Patriotismusbegriff zu gewinnen. Ich hoffe, das war nur eine Phase. Das Buch wäre deutlich besser geworden, wenn es schlicht „Aktivierende Politik – Eine Ideensammlung“ geheißen hätte. Patriotismus hätte man darin problemlos weglassen und semantische Verrenkungen und Sackgassen damit umschiffen können. Dann hätten die Lesenden sich selbst aussuchen können, welche Ideen sie spannend fänden. Geschickt verpackte Ideen liefert Robert in seinem Buch schließlich, auch wenn sie für sich nicht wirklich alle neu oder der große Wurf sind.

Habeck, Robert (2010): Patriotismus. Ein linkes Plädoyer. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

NH & NR

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Junggrüne Europäer in Helsinki

Anfang des Monats veranstaltete die Federation of Young European Greens (FYEG) in Helsinki ein Seminar mit dem Titel „Arts, Crafts and Politics“. Dort habe ich zusammen mit den anderen

Tag 1

Teilnehmer*innen aus insgesamt 20 verschiedenen Ländern Kommunikationsstrategien für politische Kampagnen erarbeitet und verschiedene Formen des Artivism (Arts & Activism) erprobt. Als Ergänzung zu den praktisch orientierten Sitzungen hatten wir zahlreiche politische Akteure zu Gast, die uns von ihren persönlichen Erfahrungen berichteten und uns Tipps für die Arbeit in unseren lokalen Gruppen mit auf den Weg gaben.


Als erstes sprach Natalie Bennet (Vorsitzende der Green Party of England and Wales) mit uns über die Einbettung einzelner Aktionen in die „bigger story“, die hinter jeder grünen Kampagne erkennbar sein sollte. Ihrer Erfahrung nach ist es elementar, zu vermitteln, dass Grün zu sein nicht bedeutet etwas aufzugeben, sondern etwas zu gewinnen – ein besseres Leben für alle. Um das zu erreichen, sollte nicht die Änderung des individuellen Verhaltens im Mittelpunkt stehen, sondern die notwendigen Veränderungen im System. Die Formen des Aktivismus, mit denen Menschen sich für grüne Ziele einsetzen, können dabei ganz unterschiedlich sein. Entscheidend ist es, verschiedene ! Möglichkeiten des Engagements anzubieten, um möglichst viele Menschen zu gewinnen. Gerade jetzt sei ein guter Zeitpunkt dafür, denn die aktuellen Krisen stellen uns vor einen Wendepunkt und machen es möglich, einen Wandel in die richtige Richtung zu erreichen. Dazu ist es wichtig, dass wir jeden kleinen Erfolg feiern. Denn Schritt für Schritt kommen wir damit zum Ziel. Wir müssen diese positive Botschaft wieder nach außen transportieren und zeigen: Soweit sind wir schon gekommen – das haben wir noch vor uns.

Lasse Miettinen (Parteisekretär der finnischen Grünen) berichtete von den Entwicklungen der Grünen Partei in Finnland in den vergangenen Jahren. Vor fünf Jahren holte der grüne Präsidentschaftskandidat die zweitmeisten Stimme, gleich nach dem konservativen Kandidaten.

Lasse Miettinen

Der Partei gelang es jedoch zunächst nicht, diesen persönlichen Erfolg in einen Aufschwung für die gesamte Partei umzuwandeln. Daraufhin sprachen sie mit Grünen in anderen Ländern, um dadurch ihre eigene Kampagne zu verbessern. Vor allem die erfolgreichen österreichischen Grünen dienten dabei als Orientierung. Im Zentrum stand, das große Potenzial bei den Wähler auszuschöpfen, die den Grünen etwas abgewinnen können, jedoch nicht besonders politisch interessiert sind. Dazu war es nötig, Recherchen zu betreiben, um herauszufinden, welche Themen diese Menschen bewegen. Denn bei jeder Kampagne gilt: Je genauer die Zielgruppe umrissen ist, desto effizienter lassen sich die oftmals sehr begrenzten Ressourcen nutzen. Dazu mussten die Grünen aufhören, davon auszugehen, dass alle potenziellen Wähler in gleichem Ausmaß von denselben Werten angetrieben wurden, wie die politisch Aktiven selbst. Dieser Schritt sei in einer mittlerweile seit vielen Jahren etablierten Partei teils schwer umzusetzen.
In Finnland schaffte man es erfolgreich, eine neue „Marke“ aufzubauen, die einen hohen Wiedererkennungswert und eine zentrale Botschaft hat: „Wir schaffen eine bessere Welt. Schritt für Schritt.“ Auch wenn es natürlich um rationale Forderungen geht und die intensiven inhaltlichen Debatten innerhalb der Partei wichtig sind, versuchte man nun wieder die Menschen emotional zu berühren, statt sie allein mit Fakten überzeugen zu wollen. Die einzelnen politischen Forderungen sollten immer erkennbarer Teil einer übergeordneten Geschichte sein. Gerade in Zeiten von großer Verunsicherung ist es zentral, eine positive Botschaft zu vermitteln. Die Idee einer Veränderung sollte nicht wie ein Sprung ins Unbekannte wirken, sondern einer positiven Agenda folgen, die deutlich macht, wofür die Grünen kämpfen, nicht wogegen.
Außerdem mussten seines Erachtens nach viele politische Akteure erst lernen, klare und verständliche Botschaften zu vermitteln. Durch den Anspruch, keine populistischen Äußerungen zu tätigen, verstrickten sie sich in Details der politischen Agenda und verloren damit den Bezug zu den Bürger*innen außerhalb des politischen Tagesgeschäfts.
Während der Kampagne versuchte man, schnell auf neue Entwicklungen zu reagieren, sodass die Grünen stets die Ersten waren, die Neuigkeiten einordneten, reflektierten und für die Wähler in einen größeren Kontext setzten. Dabei lag der Fokus auf der eigenen Agenda und nicht darauf, die Aussagen der rechten Parteien zu widerlegen. Dazu mussten die Grünen anfangen, auch bei kontroversen Debatten klare Position zu beziehen, mit der sich die Menschen identifizieren können, statt bloß niemanden abschrecken zu wollen.
Bei ihren Plakaten verzichteten sie auf die typischen Portrait-Fotos von Politiker*innen und zeigten Menschen in Alltagssituationen in Kombination mit klar formulierten, progressiven Handlungen für die Zukunft.
Diese neue Strategie war erfolgreich: Heute sind die Grünen die zweitstärksten Kraft in Finnland. Möglicherweise finden sich dort auch einige Ansatzpunkte für die deutschen Grünen, um ihre Ziele besser zu kommunizieren und das Image der „Besserwisser*innen-Partei“ endlich abzulegen.

Der nächste Referent war Sybren Kooistra, der bei der Kampagne für Obama in den USA und für Jesse Klaver in den Niederlanden mitgewirkt hatte. Seine zentrale Botschaft fasste er in einem Zitat von Thomas Jefferson zusammen: „On matters of style, swim with the current, on matters of principle, stand like a rock.”. Es ist entscheidend, die aktuelle Stimmung einzufangen und den richtigen Ton zu treffen bei den Fragen, die die Menschen bewegen. Bei der Vermittlung eigener Forderungen sollte der aktuelle Diskurs immer im Mittelpunkt stehen. Nur so kann man Verständnis vermitteln anstatt belehrend zu wirken. Zuhören – das ist seiner Ansicht nach eine der zentralen Fähigkeiten, die die niederländischen Grünen in den letzten Jahren gelernt haben. Die Botschaft sollte dabei idealerweise hoffnungsvoll, humorvoll, dringlich und von hohem Wiedererkennungswert sein. Gerade die Grünen haben den Ruf, sich um Luxusprobleme zu kümmern, statt die alltäglichen Sorgen der Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. Daher ist es umso wichtiger, die Bedeutung der grünen Ziele für jeden Einzelnen deutlich zu machen.

Mit Heidi Hautala (Mitglied des Europäischen Parlaments) sprachen wir über die Schwierigkeit,

Heidi Hautala

ein positives Narrativ zu finden, mit dem man die EU den Bürger*innen näher bringen kann, ohne dabei die Probleme der EU aus den Augen zu verlieren. Schließlich hatten wir noch Pekka Haavist (aktueller Präsidentschaftskandidaten der finnischen Grünen) zu Gast. Dabei ging es vor allem um die Probleme, die uns in den verschiedenen europäischen Ländern aktuell beschäftigen. Dabei wurde deutlich, dass sich die Themen, die vor allem junge Grüne beschäftigen, trotz sehr unterschiedlicher politischer Rahmenbedingungen sehr ähneln.

Dieses Seminar hat mir wieder einmal vor Augen geführt, warum ich meine Freizeit grüner Politik widme. Denn neben dem eigentlichen Programm waren es insbesondere die Gesprächen mit den

Pekka Haavist

anderen Teilnehmer*innen, die diese Woche so besonders gemacht haben. Die zahlreichen Geschichten von jungen Menschen, die in ihren unterschiedlichen Heimatländern mit so viel Begeisterung und vollem Einsatz für ihre Ziele kämpfen, machen Mut und motivieren enorm, auch selbst noch mehr die Initiative zu erreichen. Vernetzungen dieser Art, die in offenen Diskussionen ganz unterschiedliche Sichtweisen auf grüne Ideen zusammenbringen, sind enorm wertvoll und machen einen gemeinsamen Wandel über Landesgrenzen hinweg möglich. Daher möchte ich allen Beteiligten bei der FYEG an dieser Stelle noch einmal danken, dass sie so zahlreiche Möglichkeiten schaffen, jungen Menschen in Europa eine Stimme zu geben.

 

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Landtagswahl 2017

1. Klares Profil

2. Auf Augenhöhe

(von Niklas)

Die Landtagswahl in NRW ist gelaufen. Ich will jetzt keine Sektion vornehmen, was im Einzelnen gut oder schlecht war. Das Gesamtergebnis hat nicht gestimmt. Uns ist es einerseits nicht gelungen neue Wähler*innen-Schichten anzusprechen, andererseits haben wir auch Stammwähler*innen verloren. Diese beiden Probleme hängen intimer zusammen, als es in der parteiinternen Diskussion vor und nach der Wahl bisher deutlich geworden ist.

 

Einige Diagnosen sehen unser Kernproblem darin, dass wir uns in keinem Dialog mit der breiten Bevölkerung befinden. »Grüne sind zu abgehoben«, »Grüne kümmern sich nur um Nischenprobleme« und auch »Grüne müssen ihr großes Kernthema wieder stärker in den Vordergrund stellen« sind die entsprechenden Formeln. Besser wird es für die Diagnostiker*innen in Baden-Württemberg oder auch Schleswig-Holstein gemacht. Lösungsorientiert wird eine bürgernähere (sic!) und pragmatischere Politik gefordert. Auch die persönliche Glaubwürdigkeit von Winfried Kretschmann oder Robert Habeck wird lobend erwähnt.

 

Andere sehen ein doppeltes Problem in einem Umgang mit grünen Haltungsfragen, der Pragmatismus und Bürgernähe (sic!) eng an aktuelle Meinungsumfragen oder Presse-Hypes knüpft. Grüne (Wähler*innen) sind vielleicht der (selbst)kritischste Haufen, den man sich denken kann. Die Zweifel und das Hadern an und mit der eigenen Partei gehören da stärker zur Identität als die Wahlentscheidung oder parteiinterne Solidarität (was für ein irrationalistisches und zutiefst verdächtiges Konzept!). Sie finden dann den »pragmatischen« Umgang mit Haltungsfragen einerseits moralisch falsch, andererseits fürchten sie um die Glaubwürdigkeit der Partei, die sie doch am liebsten selbst kritisieren.

 

Was ich aus den Diagnosen und dem Wahlkampf mitnehmen möchte, ist, dass Pragmatismus und Bürger*innennähe auch für Linke keine Schimpfwörter sein müssen – wenn Haltung dabei nicht nur an persönliche Glaubwürdigkeit geknüpft wird. 2011 sind die Grünen in den Umfragen durch die Decke gegangen. Warum? Weil wir zu Kernenergie eine dauerhafte, glaubwürdige Haltung als Partei haben. Die Menschen waren nicht immer mit uns einer Meinung, aber sie wussten, woran sie bei den Grünen sind, wenn es um Atomkraftwerke geht. Wir hatten die besten, praktisch umsetzbaren Konzepte zu dem Thema und fast jede*r hat schon auf die eine oder andere Weise mit Grünen darüber diskutiert.

 

Wir sollten als Partei diese Form von Haltung und Glaubwürdigkeit in den Vordergrund stellen. Dazu reicht es nicht, nur die besten Argumente zu haben. Dazu müssen wir mit den Menschen ins Gespräch kommen, dürfen nicht Formeln runterbeten, sondern müssen offen und mutig für unsere Sache streiten. Es sind bei weitem nicht alle Menschen bereit, mit uns für eine offene, nachhaltige Gesellschaft zu arbeiten. Wir werden auch nicht alle mit Argumenten überzeugen oder mitnehmen können. Ziel sollte es sein, zumindest mit allen Mal darüber diskutiert zu haben: fair und offen aber in der Sache mit klarer Haltung.

 

Zu einem Dialog auf Augenhöhe gehört es, das Gegenüber auch zu konfrontieren, wenn ein Dissens vorliegt. Zum Beispiel und gerade wenn uns Menschenfeindlichkeit begegnet. So ist Racial Profiling nie okay. Einen »Trade-off« bei Rassismus zu machen, ist rassistisch. So sollten Unisex-Toiletten und der Genderstar das Normalste der Welt sein. Wer sie nicht umsetzen möchte, weil es »Wichtigeres« gibt, muss sich die Frage gefallen lassen, warum sie*er sich dann bei so einem »unwichtigen« Thema verkämpft. Wenn diese Themen in der Öffentlichkeit skandalisiert werden, müssen eben die sexistischen oder rassistischen Argumentationsmuster der Skandalisierungen von uns thematisiert werden. Dabei sind – und auch das müssen wir immer wieder klar machen – Sexismus und Rassismus keine Schimpfwörter, sondern Beschreibungen zu recht tabuisierter Zustände. Sie markieren in einer sexistischen und rassistischen Gesellschaft nicht das Ende der Diskussion, sondern den Beginn der Aufarbeitung – denn auch das ist unsere Aufgabe.

 

Diese Mischung aus klarer Haltung und Lust an kontroverser Diskussion ist auf Themen wie Bildung, Steuern, Energie und Ernährung übertragbar. Eine Veggie-Day- oder Steuer-Diskussion muss nicht mit kleinlautem Zurückrudern enden. Wir haben gute Gründe für unsere Forderungen und sollten sie mit geradem Rücken darlegen, selbst wenn wir nicht alle überzeugen können. Wir wollen Inklusion, Umverteilung, den Umstieg auf 100% Erneuerbare und einen Ausstieg aus der tier- und menschenfeindlichen industriellen Tierhaltung. Wir müssen dafür auch streiten.

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Wahlkreisfahrt Berlin

 

(von Svenja)

Eine Einladung direkt aus dem Bundestag – das erreichte den Kaktus Anfang des Jahres, als Maria Klein-Schmeink, die Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen aus Münster, uns zu einer Wahlkreisfahrt einlud. Jede*r Bundestagsabgeordnete hat die Möglichkeit, mehrmals im Jahr Besuchergruppen von etwa 50 Menschen nach Berlin einzuladen, die Organisation der 3-tägigen Reise wird vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung übernommen und fokussiert sich darauf, Berlins vielfältige politische Seite zu zeigen.

Am 16. März fuhren so 12 Mitglieder des Kaktus gemeinsam mit anderenen interessierten und engagierten Menschen mit der Bahn von Münster nach Berlin.

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Dort wurden wir von einem Reisebus abgeholt und lernten unseren Guide für die nächsten Tage kennen. Nach einer kurzen Stärkung stand auch schon der erste Programmpunkt an: Der Besuch im Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dort erfuhren wir zunächst einiges über die allgemeine Arbeit des Ministeriums, die Struktur und die Zuständigkeiten. Anschließend hörten wir einen Vortrag, der sich auf die Arbeit des BMZ in der AIDS-Prävention in Namibia fokussierte. Wir konnten so einen guten Einblick in das breite Tätigkeitsfeld gewinnen und natürlich blieb am Ende auch Zeit für (kritische) Fragen und die Verpflegung mit Fair Trade Schokolade und Kaffee.

Danach machten wir uns mit dem Bus auf dem Weg ins Hotel und mit dem dortigen Abendessen endete das offizielle Programm des ersten Tages. Für uns endete der Tag allerdings erst nach mühsamer (aber letztendlich erfolgreicher) Suche nach einer Kneipe in Hotelnähe – in dieser Hinsicht waren wir wohl im falschen Teil der Hauptstadt gelandet.

Für den nächsten Tag war eine Stadtrundfahrt vorgesehen – die einzige Möglichkeit in so kurzer Zeit einen groben Überblick über das unglaublich vielseitige Berlin zu gewinnen. Mit dem Bus fuhren wir durch die verschiedenen Bezirke und konnten uns vom Regierungsviertel bis Friedrichshain alles von oben anschauen, während unser Guide uns immer wieder mit Geschichten und detaillierten Fakten über die Stadt versorgte. Außerdem besuchten wir das Deutschland-Radio und lernten während einer Führung vieles über die Funktionsweise eines Radiosenders, über die Produktion eines Hörspiels und die Arbeit für die Nachrichten im Radio.

Nach dem Mittagessen stand der wohl wichtigste Punkt auf dem Programm: Der Besuch im Bundestag und die Diskussion mit unserer Abgeordneten Maria.

Zunächst wurde uns und anderen Besucher*innengruppen im Plenarsaal des Bundestags vieles über die Besonderheiten der Arbeit des Bundestags erklärt. Anschließend besuchten wir Maria in den Räumlichkeiten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Maria erzählte über ihre Arbeit und eine spannende Diskussion schloss sich an. Da Maria die Funktion der Gesundheitspolitischen Sprecherin der Fraktion innehat, lag der Schwerpunkt des Gesprächs natürlich auf diesem Thema. Dadurch konnten wir viel Neues erfahren und mitnehmen, da sich mit diesem immens wichtigen politischen Bereich nur wenige von uns jungen Menschen bisher genauer auseinander gesetzt hatten – obgleich das Thema uns alle zu irgendeinem Zeitpunkt betrifft oder betreffen wird.

Danach besuchten wir die Dachterrasse des Reichstagsgebäudes und waren sehr erfreut dass trotz gegenteiliger Ankündigung die Kuppel geöffnet war, sodass wir vor dem windigen Märzwetter geschützt die Aussicht über das politische Berlin genießen konnten.

Nachdem obligatorischen Foto der Gruppe mit Maria vor der Kuppel verabschiedeten wir uns von unserer Abgeordneten und verließen den Reichstag für das gemeinsame Abendessen und die anschließende Rückfahrt zum Hotel.

Natürlich konnten wir an diesem Abend von unseren Erfahrungen des Vortags profitieren und wussten gleich, wo wir nicht nach einer Kneipe suchen mussten. 😉

Am nächsten Vormittag besuchten wir als letzten Programmpunkt die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße. Dort existieren nicht nur ein bedrückend detailgetreuer Nachbau des Todesstreifens und große Teile der Berliner Mauer, es warteten auch die berührenden persönlichen Schicksale der Menschen, die im Grenzbereich der Berliner Mauer starben. Mauern kosten Leben und die Gedenkstätte hilft uns dabei, nicht zu vergessen, dass gegen Tyrannei Widerstand bestehen muss, und dass wir unser Bestes tun müssen, um die Freiheiten der Menschen, die für unsere Generation selbstverständlich sind, zu verteidigen und zu sichern.

Nach diesem Besuch aßen wir gemeinsam zu Mittag und es blieb anschließend noch ein wenig Zeit, die wir zum Beispiel für den Besuch des Berliner Doms nutzten, bevor wir wieder den Rückweg nach Münster antraten.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Maria dafür, dass sie uns diese Erfahrung und den spannenden Aufenthalt in Berlin durch ihre Einladung ermöglicht hat!

 

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Warum wir Feminismus immer noch brauchen oder: Ein Strauß Rosen voller Einwände

(von Vio)

Abgesehen davon, dass das Wort Feminismus in vielen Köpfen Unbehagen auslöst oder mit Männerhass assoziiert wird, wird oft die Frage gestellt, weshalb wir Feminismus denn überhaupt noch bräuchten. Auf den ersten Blick wirkt es für viele, als hätte frau schon eine Gleichstellung erreicht. Das Bundeskanzler*innenamt besetzt eine Frau, generell erklimmen immer mehr Frauen höhere Ämter in ihrer Karriere, Bildung steht seit 350 Jahren auch uns zu, das allgemeine, gleiche Wahlrecht haben Frauen hierzulande seit 1918, in der Schule und in der Uni schreiben wir gute Noten, machen Abschlüsse und meistern erfolgreich Berufsausbildungen. Es besteht immerhin eine Straffreiheit unter bestimmten Vorraussetzungen für eine  Abtreibung, immer mehr Frauen, die sich trauen Vergewaltigungen anzuzeigen und es existieren Frauenquoten. „Natürlich“ wirkt das für viele erstmal so, als bestünde Gleichberechtigung. Aber nicht für mich. Meine feministische Brille setzt sich immer fester ab, je mehr Unterdrückung ich mitbekomme. Jeden Tag. Und ja, es sind auch oder gerade die Feinheiten, die diese Unterdrückung ausmachen. Es ist nicht so, dass ich die bisherige Entwicklung nicht anerkenne, viel mehr drängt sich mir die Frage auf, weshalb wir uns mittlerweile in der dritten Welle des Feminismus befinden und ich trotzdem das Bedürfnis habe diesen Text zu schreiben.

Also zweiter Blick: Gleichberechtigung wäre das alles für mich nur, wenn es selbstverständlich wäre, dass Frauen die Entscheidung fernab der gesellschaftlichen Rollenverteilung überlassen wird, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen, dass sie Karriere machen, auch in so deklarierten „Männerberufen“, dass eine Frau etwas beeinflusst. Wenn eine Frauenquote gar nicht mehr von Nöten wäre. Wenn eine Frau ihre Abtreibung nicht mehr rechtfertigen müsste und wenn es mehr Ärztinnen*Ärzte gäbe, die aufhören würden dieses Thema zu tabuisieren und sich stattdessen für das Selbstbestimmungsrecht der Frau einsetzen würden.

Dritter Blick: Frauen verdienen ca. 21 % weniger als Männer. Nach Estland (28,3%) und Österreich ( 22,9%) ist Deutschland somit das Land mit der drittgrößten Lohndifferenz in Europa. Oder schlimmer gesagt: Ab dem 11. Oktober arbeiten wir quasi gratis. Das liegt daran, dass Frauen eher in atypischen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten und dazu auch in sozialen Branchen, die oft schlechter bezahlt sind, als zum Beispiel Jobs im produzierendem Gewerbe. Dieses lässt sich jedoch auch auf unsere Rollenverteilung in der Gesellschaft beziehen. In gleichen Berufen verdienen Frauen jedoch trotzdem noch 6 % weniger, als ihre männlichen Arbeitskollegen. Das Steuermodell des Ehegattensplittings bietet dabei meiner Meinung nach nicht wirklich Vorteile, da es nur Hand in Hand mit dieser traditionellen Rollenverteilung geht.

Vierter Blick: Topmodelshows und Magazine glorifizieren einen bestimmten Körpertyp „Schlank, weiß und able-bodied“( sind somit nicht nur sexistisch, sondern auch rassistisch und ableistisch ) und fördern damit nicht gerade das Selbstwertgefühl unter den Heranwachsenden. Jedes vierte Mädchen in Deutschland leidet unter einer Essstörung, wie etwa Magersucht oder Bulimie. Nach dem Hungern folgt eine der ca. 30000 schönheitschirurgischen Eingriffe, die in Deutschland pro Jahr durchgeführt werden. Die Ironie dahinter: Die gleichen Frauen, die sich jeden Tag schminken und sich gar einer Operation unterziehen, nur, um dem Frauenbild der Gesellschaft zu entsprechen und dabei behaupten, dieses wäre ihre freie Entscheidung, prangern  die Unterdrückung und den Zwang an unter denen 6000 Mädchen täglich beschnitten werden ( von welchen insgesamt 30 % an den Folgen sterben ) ohne dabei zu merken, dass sie sich selbst jeden Tag unterdrücken lassen. Anzumerken ist, dass es absolut in der Entscheidungsfreiheit der Menschen stehen sollte, ob sie sich zum Beispiel aus eigener Interesse schminken, jedoch stellt sich die Frage wie viele sich ohne Make-Up gar nicht mehr auf die Straße trauen und wie viele sich eigentlich schminken würden, wenn es nicht mehr von der Gesellschaft vorgegeben würde. Nebenbei führt diese menschenverachtende Fashion-Industrie zu Konkurrenzkämpfen unter den Frauen selbst. Ganz nach dem Motto „Je größer die Oberschenkellücke, desto schöner, klüger, erfolgreicher“ vergleichen sich Mädchen und Frauen untereinander, anstatt sich selbst und gegenseitig zu akzeptieren und unterstützen. All´ das passiert so selbstverständlich, als wäre das höchste Gut der Weiblichkeit die Schönheit.

Fünfter Blick: In Disneyfilmen wird grundsätzlich der weibliche Charakter vom männlichen Charakter gerettet. Wie soll da eine fungierte Vorbildfunktion für heranwachsende Mädchen existieren. Anstatt emanzipatorische Bildung zu fördern, werden Klischees weiter verankert. Das weibliche Geschlecht sei mit Schwäche gleichgesetzt, Frauen wären durch ihre Darstellung selbst Schuld an Vergewaltigungen und der Standardsatz der Kindheit wird so zahlreich verteilt wie Rosen: „Die Jungs ärgern euch nur, weil sie euch mögen“. Eltern sollten ihren Kindern lieber beibringen sich mit Worten und notfalls Taten zu verteidigen, anstatt sie einfach diese Ungerechtigkeit hinnehmen zu lassen. Schon von kleinauf wird ihnen diese ungerechte Rollenverteilung vermittelt. Vor allem in den Werbungen werden die geschlechtlichen Stereotype verdeutlicht. Quer durch die Werbebranche werden Frauen auf ihre Brüste, ihren Hintern und ihre Beine reduziert und damit objektifiziert. Somit steigt die Anzahl an Vergewaltigungen auch weiter an, wenn Frauen nicht nur in der Werbung, sondern generell in der vorherrschenden Rape Culture nur als Objekt und nicht als Subjekt wahrgenommen und behandelt werden. Mit Sätzen wie „Stell dir vor, es wäre deiner Schwester passiert“ wird im Internet versucht dagegen anzugehen. Frauenfeindlicher könnte mensch jedoch gar nicht argumentieren, da das Wohl der Frau so nur über einen ihr zugeordneten Mann begründet wird. Frauen sind Menschen und das als Fakt reicht aus, um ihr Wohl und ihre Würde zu achten.

Der Feminismus ist nicht in unserer Gesellschaft verankert. Stattdessen versteckt er sich täglich hinter Köpfen, die sich unterdrückt fühlen, sich nicht trauen etwas zu sagen, weil „diese Feminist*innen nur noch nerven“. Wir brauchen mehr Menschen, die für die Gleichberechtigung aufstehen, laut sind und sich nicht den Mund verbieten lassen. Lasst uns grün-lila sein und für diese Rechte kämpfen!

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Wie ich Feminismus verstehen lernte

(von Kira)

Was ist eigentlich Feminismus? Bis zu diesem Wochenende war mir das nie bewusst. Klar, die Grüne Jugend definiert sich als queerfeministischer Verband. Aber wofür steht das eigentlich? Unbewusst habe ich wohl noch lange gedacht, dass Feminismus heißt, Männer zu hassen. Doch seit ein paar Wochen weiß ich es besser. Ein Teil von mir würde sich jetzt auch als feministisch bezeichnen.
Feminismus heißt, einzufordern, was eigentlich selbstverständlich ist: Die Gleichberechtigung von allen und somit auch insbesondere von Frauen, Inter- und Trans*personen. Das hört nicht mit dem Wahlrecht auf, oder mit der Möglichkeit, in der Wirtschaft einen Beruf ausüben zu dürfen. Und es hört eben auch nicht bei Quotierungen bei der Grünen Jugend auf. Beim Weitersteiger*innen Seminar, das ich im Dezember besuchen durfte, ist mir das alles auf wunderbare Weise klar geworden. Das Seminar war dafür gedacht, zunächst einen Schutzraum zu bieten, den es ja glücklicherweise häufiger bei uns in der Grünen Jugend gibt, in dem wir als FIT* Personen diskutieren konnten. Dabei ging es natürlich viel um Feminismus, aber eben nicht nur, und das hat mich so überrascht: Der FIT* Schutzraum diente nicht nur dazu, über Diskriminierungen und angestrebte Gleichberechtigung zu reden, sondern auch um unsere sonstigen politischen Positionen weiterzuentwickeln. Das ist insofern sinnvoll, als dass die Perspektive von FIT*-Personen eine andere sein kann, und da FIT* Personen in Debatten weniger Beachtung geschenkt wird, dass wir uns und unseren Positionen dort die volle Aufmerksamkeit geben.
Aus dem Erfahrungsaustausch über Diskriminierungen und unserer Geschlechterwahrnehmung habe ich einiges mitgenommen: Ich verstehe nun, dass Momente, in denen ich mich unwohl oder benachteiligt gefühlt habe, häufig nichts mit meiner Person sondern mit meinem (sozialen und biologischen) Geschlecht zu tun hatten. Das hilft mir zu verstehen, wie es zu diesen Diskriminierungen kommt und wie sich diese bekämpfen lassen.
Ein wichtiger Teil des Seminars war auch das Redetraining. Es ist mir zwar sehr schwer gefallen, tatsächlich eine Rede zu halten, aber es ist ja auch wichtig zu wissen, wo die eigenen Stärken und Schwächen liegen.
Um noch eine weitere Fähigkeit die politisch von Bedeutung ist zu schulen, stand auch ein Workshop zur Pressearbeit auf der Tagesordnung. Dieser gefiel mir persönlich bei diesem Seminar am besten, da ich sehr viel darüber gelernt habe, wie Presse und Medien funktionieren und wie man sich in diesen gut präsentieren und Aufmerksamkeit erregen kann.
Diese Workshops und das ganze Seminar hatten natürlich noch einen größeren Zusammenhang und Sinn als uns persönlich, als einzelne FIT* Personen, fit für politische Arbeit zu machen, sondern auch die FIT* Fraktion in der Grünen Jugend und so letztendlich auch in der „großen“ Politik zu stärken. Das Schlagwort Vernetzung spielt dabei eine große Rolle, da dies eine der Grundvoraussetzungen für politischen Erfolg und ein Weiterkommen in politischen Strukturen ist. Durch das Weitersteiger*innen Seminar wurden uns Perspektiven in der Politik aufgezeigt, wir wurden angeregt uns noch mehr zu engagieren und nicht nachzugeben. ­Denn der Feminismus ist nicht gestorben, er ist ein aktuelles Thema und betrifft neben uns FIT* Personen alle, die an unserer Gesellschaft teilhaben. Das habe ich jetzt begriffen und kann so sagen, dass mir das Seminar die Augen geöffnet und mich auch persönlich gestärkt hat. Danke Grüne Jugend und keep fighting!

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Warum wir Kinder 2. Klasse haben und was dagegen hilft

(von Leon)

In gut einem Jahr ist Bundestagswahl und das bedeutet, die Parteien müssen jetzt klare Positionen und Inhalte formulieren, mit denen sie bei der anstehenden Wahl punkten wollen. Auch die GRÜNEN müssen sich zeitnah dieser Aufgabe stellen. Innerparteilich wird schon gestritten, ob auch 2017 das Wort Steuererhöhungen Einzug in den Wahlkampf erhalten soll. Cem Özdemir hat sich dazu klar geäußert. »Mit mir gibt´s keinen Steuerwahlkampf«, sagte er in einem Interview und legte damit die Richtung aus seiner Sicht fest.1 Zwar ist Cem langjähriger Bundesvorsitzender und möchte zum grünen Spitzenkandidaten 2017 gewählt werden, doch in trockenen Tüchern ist seine Kandidatur und seine Wahlkampfstrategie noch nicht – zum Glück.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) hat im aktuellen Verteilungsmonitor beunruhigende Zahlen im Hinblick auf Kinderarmut in Deutschland veröffentlicht. Demnach leben durchschnittlich 19% der unter 18-Jährigen in einkommensschwachen Haushalten – trauriger Spitzenwert ist Bremen, wo jedes dritte Kind mit Kinderarmut zu kämpfen hat.2 Auch die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (DIE LINKE) hat nach einer Auswertung von Statistiken der Bundesagentur für Arbeit traurige Zahlen vorzulegen. Laut ihr war 2015 jedes siebte Kind unter 15 Jahren auf Hartz-IV angewiesen.3 Insbesondere die letzte Zahl stimmt traurig, betrachtet mensch die Hartz-IV Regelsätze für Kinder und Jugendliche. Für sie gibt es insgesamt drei Regelbedarfsstufen, die zwischen 237 und 306 Euro im Monat liegen. In welche Bedarfsstufe ein Kind oder ein*e Jugendliche*r bis zu 18 Jahre fällt, ist altersabhängig. Schwieriger wird es dann schon, herauszufinden, wie die Höhe des Regelsatzes berechnet wird.4

Der Paritätische Gesamtverband hat eine Expertise veröffentlicht, in der die Zusammensetzungen der verschiedenen Regelbedarfsstufen aufgeschlüsselt werden.5 Dass die Regelsätze grundsätzlich zu niedrig sind, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Doch es zeigt sich schnell, warum sie so niedrig sind. Beispielsweise fließen in keine der drei Bedarfsstufen für Kinder und Jugendliche mehr als zwei Euro für Bildung ein – und das, obwohl doch eine gute Bildung allgemein als Ausweg aus der Armut gilt. Um in Armut lebenden Kindern oder von Armut bedrohten Kindern in dieser Hinsicht eine Perspektive bieten zu können und ihre Familien finanziell etwas unterstützen zu können, müssen die Hartz-IV Regelsätze daher spürbar angehoben werden.

Doch arm sind nicht nur Kinder und Jugendliche, die Hartz-IV beziehen. Auch Kinder und Jugendliche in einkommensschwachen Haushalten leben oft in Armut oder sind zumindest akut davon bedroht. Für diese Kinder gibt es den Kinderzuschlag in Höhe von maximal 160 Euro im Monat.6 Anspruch auf diese 160 Euro haben Paare, deren Bruttoeinkommen bei mindestens 900 Euro im Monat liegt, bzw. Alleinerziehende, deren monatliches Bruttoeinkommen bei mindestens 600 Euro liegt, denn dann sind Elternteile in der Regel in der Lage für ihren eigenen Unterhalt zu sorgen, nicht aber für den ihrer Kinder. Allerdings darf das Einkommen zusammen mit dem Kinderzuschlag auch nicht höher als eine individuell berechnete Höchsteinkommensgrenze ausfallen. Zudem wird der Kinderzuschlag nur gezahlt, wenn dadurch die Hilfebedürftigkeit nach SGB II vermieden wird, also kein Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld erhoben werden kann. So kompliziert die Errechnung auf einen Anspruch, bzw. die Höhe des Kinderzuschlages auch ist, eines wird schnell deutlich: finanzielle Sicherheit wird weder der Familie noch den Kindern geboten, wenn ihnen unterm Strich kaum mehr Geld als Arbeitslosengeld II Empfänger*innen zur Verfügung steht. Einzig lobenswert am Kinderzuschlag ist, dass er nicht nur aus der Zahlung von bis zu 160 Euro je Kind besteht, sondern auch aus konkreten Leistungen für Bildung und Teilhabe.7

Eine Leistung, die grundsätzlich alle Eltern beziehen, ist das Kindergeld in Höhe von knapp 200 Euro.8 Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich auch hier, dass das Kindergeld insbesondere einkommensschwachen Familien keine echte finanzielle Stütze ist. Während zum Beispiel das Kindergeld auf Hartz IV angerechnet wird und somit zu einer Minderung des Regelsatzes für Arbeitslosengeld II Empfänger*innen führt, dürfen sich einkommensstarke Haushalte über Steuergeschenke vom Staat freuen, weil sie vom Kinderfreibetrag anstelle des Kindergeldes profitieren. Ob Eltern Kindergeld beziehen oder sich über den Kinderfreibetrag freuen dürfen, berechnet automatisch das Finanzamt – natürlich ganz im Sinne der Eltern.

Doch was genau ist der Kinderfreibetrag? Der Kinderfreibetrag ist ein Betrag in Höhe von 7.248 Euro, der vom jährlich zu versteuernden Einkommen der Eltern abgezogen wird und zu großzügigen Steuerersparnissen führen kann.9 Kommt das Finanzamt zu dem Ergebnis, dass die Steuerersparnis nach Abzug des Kinderfreibetrages über 2.280 Euro (Höhe des jährlichen Kindergeldes, wenn monatlich 190 Euro ausgezahlt würden) liegt, verzichtet es auf die Auszahlung des Kindergeldes. Das bedeutet, je höher das zu versteuernde Einkommen ist, desto größer sind die Steuerersparnisse. Einkommensschwache Haushalte müssen sich hingegen mit monatlich 190 Euro Kindergeld zufrieden geben, was im schlimmsten Fall sogar zur Minderung anderer Einnahmen (ABG II) führt.

Hier zeigt sich das Paradoxon der deutschen Familienpolitik. Sämtliche Maßnahmen und Leistungen, die Eltern bei der Erziehung von Kindern finanziell unterstützen sollen, greifen nicht, sondern hebeln sich teils gegenseitig aus. Schlimmer noch ist, dass die einzelnen Leistungen durchweg viel zu niedrig sind, um Kinder vor Armut zu schützen oder sie aus der Kinderarmut zu holen. Stattdessen festigen sie die Kinderarmut und lassen viele Familien in ihrer finanziell prekären Situation zurück. Das Kindergeld und der Kinderfreibetrag in ihrer heutigen Form zeigen eindrucksvoll, wie in Deutschland die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergerissen wird.

Um diese Entwicklung zu stoppen, muss dieses Paradoxon in der Familienpolitik schnellstmöglich beseitigt werden. Zunächst gehört der Maßnahmenkatalog abgespeckt. Anstelle von Kinderzuschuss, Kindergeld und Kinderfreibetrag braucht es nur eine Leistung für Eltern, nämlich ein nach Bedarf gestaffeltes Kindergeld. Dadurch würde nicht nur Bürokratie abgebaut werden, sondern vor allem auch garantiert werden, dass jede*r einen Geldbetrag erhält, der ein sorgenfreies (Familien-)Leben ermöglicht. Solch ein gestaffeltes Kindergeld kann allerdings nur finanziert werden, wenn die einkommensstarken Haushalte nicht mehr von wachsenden Steuerersparnissen profitieren, sondern durch volle und höhere Steuersätze denen helfen, die das Geld wirklich brauchen. Wenn wir tatenlos zusehen, wie arme, perspektivlose Generationen aufwachsen, ist niemandem geholfen.

Bei der letzten Bundestagswahl 2013 haben sich die GRÜNEN getraut, einen Steuerwahlkampf zu machen. Denen, die Geld haben, sollte welches genommen werden und denen, die es brauchen, gegeben werden – so lautete die Botschaft. Ob das der Grund für das schlechte Wahlergebnis war, wird innerparteilich heftigst diskutiert. Aber eines ist sicher: der Wahlkampf war ehrlich, weil Möglichkeiten diskutiert wurden, die die sozialen Probleme in Deutschland endlich lösen können. Und wäre es nicht mehr als ehrlich, im nächsten Jahr mit derselben Botschaft Wahlkampf zu machen, lieber Cem?

Anmerkungen und Quellen

1 siehe ZDF: online abrufbar unter: http://www.heute.de/gruenen-chef-cem-oezdemir-lehnt-steuer-wahlkampf-im-berlin-direkt-interview-ab-43715178.html [zuletzt aufgerufen am 01.07.2016].

2 siehe WSI: online abrufbar unter: http://www.boeckler.de/wsi_62998.htm [zuletzt aufgerufen am 29.06.2016].

3 siehe Linksfraktion: online abrufbar unter: http://linksfraktion.de/nachrichten/mehr-kinder-muessen-hartz-4-leben/ [zuletzt aufgerufen am 29.06.2016].

4 siehe Bundesministerium für Arbeit und Soziales: online abrufbar unter: http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsmarkt/Grundsicherung/Leistungen-zur-Sicherung-des-Lebensunterhalts/2-teaser-artikelseite-arbeitslosengeld-2-sozialgeld.html [zuletzt aufgerufen am 30.06.2016].

5 Im Folgenden wird sich auf die Expertise bezogen, die auch online abrufbar ist unter: http://www.der-paritaetische.de/uploads/media/Expertise_Regelsatz-2015_web.pdf.

6 Der Kinderzuschlag wurde zum 01.07.2016 von maximal 140 auf 160 Euro erhöht.

7 Darunter fallen z. B. (Sach-)Leistungen für den Schulbedarf (max. 100 Euro im Jahr) oder die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben (10 Euro im Monat). Außerdem werden Kita- und Schulausflüge voll erstattet.

8 Für das erste und zweite Kind erhalten Eltern 190 Euro, für das dritte Kind 196 Euro und für jedes weitere Kind 221 Euro im Monat.

9 Bei getrennt lebenden Eltern wird die Hälfe des Kinderfreibetrags vom zu versteuernden Einkommen des jeweiligen Haushaltes abgezogen.

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Über Fußball, Party und Patriotismus

(von Simon)

Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.“ – aus: Arthur Schopenhauer. Aphorismen zur Lebensweisheit

Und selbst wenn alles scheiße ist, du pleite bist und sonst nichts kannst / dann sei doch einfach stolz auf dein Land!“ – aus: Kraftklub – Schüsse in die Luft

In Europa ist das Fußballfieber ausgebrochen. Am ersten Wochenende der Fußball-Europameisterschaft der Männer bekleckerte sich die Fangemeinde nicht mit Ruhm: Im Vorfeld und auch im Anschluss an die Partie England gegen Russland kam es in Marseille zu extrem brutalen Auseinandersetzungen zwischen den Fans beider Mannschaften. Auch sogenannte Deutschland-Fans konnten sich nicht benehmen: Sie attackierten ukrainische Fans, zeigten die Reichskriegsflagge und es wurde sogar von Hitler-Grüßen berichtet.

GRÜNE JUGEND Rheinland-Pfalz fordert: Fußballfans Fahnen runter!

GRÜNE JUGEND Rheinland-Pfalz fordert: Fußballfans Fahnen runter!

Es wird also höchste Zeit, über den angeblich so „unverkrampften“ und „gesunden Party-Patriotismus“ zu reden. Vorweg: Wer diesen Party-Patriotismus kritisiert, dem ist ein Shitstorm gewiss, so geschehen zuletzt bei der GRÜNEN JUGEND Rheinland-Pfalz: Auf ein Facebook-Bild mit dem Aufruf, die Fahnen unten zu lassen, folgte eine Liste von bislang etwa 25.000 Kommentaren mit teilweise wüsten Beleidigungen („Ihr habt doch einen an der Wafel!!!!!!!! (sic!)“, „Kranker Verein!“, „Ihr seit (sic) doch nicht ganz dicht.“, „Ihr Grünen habt doch echt nen Vollschuss, oder?“, „Ihr grünen Pisser habt echt nicht alle Latten am Zaun. […] Ausser (sic) einem Haufen gequirlter Scheisse (sic) ist in Köpfen wohl nichts weiter vorhanden.“, usw. usf.) und sogar Morddrohungen.

Und dieses Fehlverhalten wird von der Presse gedeckt, bspw. euphemisierte die Rheinische Post diesen Shitstorm als „massive Kritik“. Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU, also bekannt für eine ebenso opportunistische wie billige Mischung aus Populismus und Patriotismus, bezeichnete die Junggrünen auch prompt als „Idioten“.

Damit ist für mich die Beweisaufnahme abgeschlossen: Der Party-Patriotismus ist verkrampft und absolut ungesund. Er hat eine angsteinflößende Dimension angenommen, in der sich Presse, Politik und Pöbel einig sind und Abweichler*innen massiv angehen.

Ich bin selbst Fußballfan, leidenschaftlich für den BVB, wohlwollend für die DFB-Auswahl. Niemand kann mir vorwerfen, was man vielleicht anderen Junggrünen vorwirft: Dass ich gegen die deutsche Elf wäre, nur weil andere hierzulande dafür seien. Ich freue mich, wenn Mustafi und Schweinsteiger gegen die Ukraine treffen und Boateng akrobatisch auf der Linie klärt. Aber ein paar kritische Hinweise sind erlaubt:

  1. Allein der Begriff der „deutschen Nationalmannschaft“ ist irreführend und provoziert patriotische Auswüchse: Es geht nicht um die „deutsche Nation“ (was auch immer die sein soll), sondern um eine DFB-Auswahl von Männern mit deutscher Staatsangehörigkeit. Als DFB-Auswahl/DFB-Elf ist sie dementsprechend auch zu bezeichnen.

  2. Ja, ich identifiziere mich mit der DFB-Elf. Nicht weil ich Deutscher bin, sondern im selben Maße – nein, nicht ganz so stark – wie ich mich auch mit der BVB-Elf identifiziere. Wenn die DFB-Elf Europameister wird, sage ich „Wir sind Europameister“ – und wenn der BVB die Champions League gewinnt, sage ich „Wir haben die Champions League gewonnen!“ Ich komme bei beidem ganz gut ohne Patriotismus, Nationalismus oder sonstigem ideologischen Überbau aus. Wieso können das nicht auch andere?

  3. In diesem Sinne sind auch DFB-Trikots (keine „Deutschland-Trikots“!) ein absolut legitimes Mittel, seine Sympathie und Unterstützung für „die Mannschaft“ zum Ausdruck zu bringen. Das ist im Vereinssport auch unproblematisch.

  4. Was komplett überflüssig ist, ist die Nationalsymbolik rundherum. Ich wüsste nicht, welchen positiven Einfluss das Singen der Nationalhymne auf die fußballerische Leistung der Mannschaft oder auf die Stimmung im Stadion haben sollte. 1974 haben die Weltmeister des DFB geschlossen nicht bei der Nationalhymne mitgesungen, die spanische Hymne hat nicht mal einen Text und dennoch hat die spanische Auswahl die Turniere der Jahre 2008, 2010 und 2012 für sich entschieden. Die Hymnen sind überflüssig – und gefährlich; sie verknüpfen zwei Dinge, die nicht zusammengehören: den Nationalismus des 19. – und den Fußball des 21. Jahrhunderts.

  5. Glaubt irgendjemand eigentlich wirklich, dass auch nur eine*r der „Party-Patriot*innen“ mehr für unsere Gesellschaft tun, sich mehr ehrenamtlich engagieren, härter arbeiten und mehr für seine Freund*innen und seine Familie einsetzen würde als andere Menschen? Der Einsatz für unsere Gesellschaft darf nicht verwechselt werden mit dem bierseligen Grölen des Deutschlandliedes und wohlfeilen „Bekenntnissen zu Deutschland“. Wer sich auf der Fanmeile mit der Deutschlandfahne um die Schultern singend volllaufen lässt, tut erstmal gar nichts „für sein Land“.

  6. Statt „Einigkeit und Recht und Freiheit“ höre ich wesentlich lieber „You’ll Never Walk Alone“. Warum? Das eine trennt, grenzt sich ab, beschwört nationale Einheit. Das andere ist ein Liebesbekenntnis, ursprünglich aus einem Musical, nun auf eine Fußballmannschaft bezogen – gewaltfrei, neutral gegenüber Dritten, mit Gänsehautgarantie.

  7. Von Seiten der UEFA und FIFA wird immer wieder beschworen, dass der Fußball unpolitisch sei. Das ist eine Lebenslüge. Er ist es nicht – und bei Nationalsymbolik sollte er es auch nicht sein. Ein klares Statement dagegen würde endlich wirklich mal „Völker verbinden“ und ein „Zeichen gegen Rassismus“ setzen. Solang das nicht passiert, sind die ganzen Werbekampagnen („No to Racism“) nichts als Lippenbekenntnisse und Propaganda.

  8. Was Beatrix von Storch als Schreckensvision vorkommt („Ohne Nationalstaat keine Nationalmannschaft und keine EM. Nur noch EU-Bundesliga.“), nennt sich Champions League/Europa League, gibt es schon und hat eine viel höhere fußballerische Klasse erreicht als die EM. Die sind auch nicht so von Event-Fans und populistischen Politiker*innen und Wendehälsen bevölkert. Also alles viel erträglicher. Sollte in einem europäischen Bundesstaat dereinst die EM entfallen, geht uns nicht viel verloren; etwas über 500 Fußballer haben allerdings eine längere Sommerpause, die Innenstädte werden nicht demoliert und vielleicht wird ja sogar die ein oder andere Flüchtlingsunterkunft weniger angezündet!

Fußball kann so schön sein. Wenn der Sport im Mittelpunkt steht. Wenn die als „Nationalmannschaften“ verklärten Teams als Vereine und nicht als Vertreterinnen von Nationen betrachtet werden. Wenn sich nicht unbedarfte Party-Patriot*innen mit AfD- und NPD-Politiker*innen solidarisieren, von der Presse naiv hofiert und aus der CSU beweihräuchert werden.

Ich bin sehr dafür, dass man beim Fußball auch mal Mensch sein und Emotionen zeigen kann. Aber das heißt nicht, dass man sich jegliches kritisches Denken verbieten sollte. Und es heißt auch nicht, dass man Menschen, die nicht „mitschwimmen“, beleidigt, beschimpft, bedroht oder gar gewalttätig wird.

Wer wirklich der Ansicht ist, der Party-Patriotismus sei „unverkrampft“, dem empfehle ich ein kleines Experiment: Am Donnerstag, beim Spiel gegen Polen, begebt ihr euch auf eine Fanmeile und beleidigt klar vernehmbar eine deutsche Nationalflagge. Die gehöre nicht dorthin, ruft einmal laut: „Deutschland verrecke!“ Und lasst euch dann auf Diskussionen ein. Ihr werdet erstaunt (und vermutlich entsetzt) sein, wie dann zwischen dem Wohl eines Stofffetzens und dem eines Menschen abgewogen wird.

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